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Es ist früh. So früh

Es ist früh. So früh, dass alle noch Schleier in den Augen haben. Wir haben uns noch nicht unsere Hüte aufgesetzt, wir sind noch bloße Menschen. Roh und ohne Kostüm, zerbrechlich. Verletzlichkeit in den Augen, denn wir haben die Riegel noch nicht vorgeschoben. Die Probleme des Tages schweben noch unförmig in der Luft. Wir können sie noch nicht greifen. Wir sehen die anderen noch nicht als andere. Wir sind noch alle eins, eine lebende atmende Masse. Unser Herzschlag pulsiert durch die Stadt. Wir reiben uns die Augen und strahlen unsere Wärme zum nächsten und zum nächsten und zum nächsten. Wir hören einander, wir riechen einander. Wir spüren einander, alles eins. Bis die Sonne über den Horizont blinzelt und uns die Schleier aus den Augen sticht.

Es ist früh, so früh, dass der hellste Himmelskörper der Mond ist. Glühend gelb leuchtet er zu unseren Fenstern herein, auf unsere warmen zerknitterten Gesichter, als wäre er die aufgehende Sonne. Die Wolken haben sich noch nicht über ihn gezogen. Die Kirchenglocken hängen noch ganz stumm an ihren Ketten. Alles schaut auf zu ihm, dem runden gelben Mond. Ein mystischer Schein geht von ihm aus. Als wäre er selbst eine Sonne, als schiene er aus sich selbst heraus. Die aufgehende Sonne gegenüber verleiht ihm die Kraft unsere Augen zu öffnen. Ein Spiegel der Sonne, Münzengroß am Himmelszelt, unendlich viel größer in den Weiten des Alls. Wir blinzeln ihm entgegen, setzen uns im Bett auf und reiben uns den Schlaf aus den Augen. Da beginnt er schon zu verblassen, violett graue Wolken ziehen vorüber und es ist vorbei. Nichts als eine silbern weiß glänzende Scheibe bleibt vom glühenden Spiegel, der es vermochte uns aus dem Schlaf zu holen.

Es ist früh. So früh, das Brot liegt noch vor den Läden. Es ist dunkel hinter den Schaufenstern. Die wenigsten sind bereits wo sie ihren Tag verbringen werden. Wir laufen alle in unsere Richtungen, steigen die Stiege hinauf und fahren sie hinunter. Wir zwingen unsere steifen Glieder in Bewegung. Die Zeit schwebt über unseren Köpfen. Sie ist wichtiger als sonst. Kaum einer von uns verweilt, wir sind beschäftigt, selbst wenn es nur damit ist, beschäftigt zu wirken. Unsere Stimmen sind noch rau, sie haben noch nicht ihr volles Volumen erreicht. Wir flüstern und reiben uns die Bettfalten aus dem Gesicht während wir die Straßen hinunterstolpern. Uns erwartet Großes und Kleines. Die Zeit wird es bringen, ob wir bereit sind oder nicht. So ist es das beste, den Schlaf so geschmeidig wie möglich wegzuwischen, alsbald bereit zu sein für das was der Tag bringen mag.

Amelia Ginster