Es war früh am Morgen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Selbst wenn sie es getan hätte, man hätte es wohl nicht gemerkt, durch die dicke Wolkendecke. Die roten Schindel der Dächer waren noch nicht rot. Lange Schatten beherrschten die Gassen. Emilia verließ das Haus, schloss die schwere Eichentür, und schritt die gepflasterte Straße entlang Richtung Bahnhof. Ein leichter Nieselregen erfüllte die Luft. Sie spürte die feuchte Kälte auf ihren Wangen. Der Regen hatte Lachen gebildet, in denen sich die Backsteinwände spiegelten. Ein mystischer Glanz lag auf den Pflastersteinen des Gehweges.
Es waren kaum Menschen unterwegs. Die wenigen, die sie sah, huschten verhüllt durch die Straßen. An den Hauswänden entlang huschten sie, bis sie von einem der dunklen Türeingänge verschluckt wurden. Alle schienen sie ein klares Ziel zu haben. Niemand spazierte hier um des Spazierens willen. Emilia kam zu dem kleinen Platz vor der Schule. Sie ging vorbei an Bäumen, auf denen sich die Tauben vorm Regen versteckten, an einer Bank, auf der eine Bierkanne stand. Neben den Büschen, die den Platz begrenzten, da lag eine große leere Bananenkiste am Boden. „Marlene“ stand auf der Kiste. Die aufgedruckten gelben Bananen hoben sich vom Grau der Umgebung ab. Es war die erste Farbe, die Emilia an diesem Tag sah. Und in der Kiste, da stand ein alter Matrose.
Emilia war sofort klar, dass er ein Matrose war. Denn als sie ihn da stehen sah, den alten Matrosen, da wurde die regennasse Asphaltstraße zu dunkelblau schäumenden Wellen. Die Tauben flatterten von den Bäumen auf und verwandelten sich in Möwen und Albatrosse, die sich durch die stürmischen Lüfte schwangen. Die zerfledderte Kappe, die dem Matrosen der einzige Schutz gegen das Wetter war, war zum Matrosenhut geworden. Die Bananenkiste, sie war ein kleines Boot, das auf den dunklen Wellen schaukelte.
Der alte Matrose trotzte dem Regen, er genoss sichtlich die Meeresbrise auf seinem Gesicht. Das Boot schwankte, doch das machte dem Matrosen nichts aus. Das war er gewohnt. Er hatte sein Boot im Griff. Er schaute zum Horizont. Weit weg von zu Hause war er. Zwei Möwen kreisten um sein Boot und stießen lange Schreie aus. Er blickte hoch in den grauen Himmel, beobachtete die Möwen einen Moment lang. Die Wellen schlugen gegen sein Boot, eine besonders heftige brachte ihn zum Wanken. Ein leises Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus. Er liebte die rauen Umstände auf hoher See. Da war er mit sich allein, der alte Matrose. Er war der Natur ausgeliefert auf seinem kleinen Boot. Im Angesicht der Urkraft des Meeres und des Windes, da spürte er seine Sterblichkeit und damit seine Lebendigkeit. So steuerte er sein Boot durch die wilden Wassermassen, die Gischt durchnässte sein Hemd, den Matrosenhut musste er festhalten, damit der Wind ihn ihm nicht vom Kopf blies.
Dann stieg der Matrose aus seinem Boot heraus. Das Meer versickerte im Asphalt und zwischen den Pflastersteinen. Zwei Tauben pickten am Boden um die Kiste herum nach Futter. Das Boot war wieder eine Bananenkiste, auf der „Marlene“ stand. Der alte Matrose bückte sich nach der Bananenkiste und verstaute sie säuberlich zwischen zwei Büschen. Dann blickte er kurz um sich, als wollte er sich vergewissern, dass keine Gefahr für sein Boot bestand. Als er sich umschaute, traf sein Blick den von Emilia, die unter einem Baum stehengeblieben war. Er nickte ihr zu, die Hand an der Kappe, wie es Matrosen eben so tun, denn er trug immer noch seinen Matrosenhut. Auch Emilia nickte ihm zu. Dann kehrte der alte Matrose ihr den Rücken zu und schritt mit leicht schlurfendem Schritt davon. Er bog in eine kleine Gasse ein und verschwand in den frühmorgendlichen Schatten. Emilia wusste, er würde am nächsten Morgen wieder sein Boot aus den Büschen holen, um auf den Wellen zu reiten, um vom Sturm verschlungen zu werden.