lies mich logo zu den Kurzgeschichten und Gedichten

Der alte Matrose

Es war früh am Morgen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Und wenn sie es getan hätte, man hätte es wohl nicht gemerkt, durch die dicke Wolkendecke hindurch. Die roten Schindel der Dächer waren noch nicht rot. Lange Schatten beherrschten die Gassen.

Ich verließ das Haus, schloss die schwere Eichentür, und schritt die gepflasterte Straße entlang Richtung Bahnhof. Ein leichter Nieselregen erfüllte die Luft. Ich spürte die feuchte Kälte auf meinen Wangen. Der Regen hatte Lachen gebildet. Ein mystischer Glanz lag auf dem Pflasterstein des Gehweges. Es waren kaum Menschen unterwegs. Die wenigen, die ich sah, huschten verhüllt durch die Straßen. An den Hauswänden entlang huschten sie, bis sie von einem der dunklen Türeingänge verschluckt wurden. Alle schienen sie ein klares Ziel zu haben. Niemand spazierte hier um des Spazieren Willens.

Ich kam zu dem kleinen Platz vor der Schule, ging vorbei an Bäumen, auf denen sich die Tauben vorm Regen versteckten. An einer Bank, auf der eine Bierkanne stand. Und neben den Büschen, die den Platz begrenzten, da lag eine große leere Bananenkiste am Boden. Marlene stand auf der Kiste. Die aufgedruckten gelben Bananen hoben sich vom Grau der Umgebung ab. Es war die erste Farbe, die ich an diesem Tag gesehen hatte. Und in der Kiste, da stand ein alter Matrose.

Es war mir vollkommen klar, dass er ein Matrose war. Denn als ich ihn da stehen sah, den alten Matrosen, da wurden die regennassen Asphaltstraßen zu dunkelblauen schäumenden Wellen. Die Tauben flatterten von den Bäumen auf und wurden zu Möwen und Albatrossen, die sich durch die stürmischen Lüfte schwangen. Die zerfledderte Kappe, die dem Matrosen der einzige Schutz gegen das Wetter war, war ein Matrosenhut geworden. Und die Bananenkiste, sie war ein Boot, das auf den dunklen Wellen schaukelte.

Der alte Matrose trotzte dem Regen, er genoss sichtlich die Meeresbrise auf seinem Gesicht. Das Boot schwankte, doch das machte dem Matrosen nichts aus. Das war er gewohnt. Er hatte sein Boot im Griff. Er schaute gen Horizont. Weit weg von zu Hause war er. Zwei Möwen kreisten um sein Boot und stießen ihre Schreie aus. Er blickte hoch in den grauen Himmel, beobachtete die Möwen einen Moment lang. Die Wellen schlugen gegen sein Boot, eine besonders heftige brachte ihn zum Wanken.

Ein leises Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus. Er liebte die rauen Umstände auf hoher See. Da war er mit sich allein, der alte Matrose. Im Angesicht der Urkraft des Meeres und des Windes, da spürte er seine Sterblichkeit und damit seine Lebendigkeit. Er war der Natur ausgeliefert auf seinem kleinen Boot. So steuerte er sein Boot durch die wilden Wassermassen, die Gischt durchnässte sein Hemd, den Matrosenhut musste er zeitweise festhalten, damit der Wind ihn ihm nicht vom Kopf blies.

Und dann stieg der Matrose aus seinem Boot heraus. Das Meer wurde wieder zu Asphalt und Pflasterstein. Zwei Tauben pickten am Boden um die Kiste herum nach Futter. Und das Boot, es war wieder eine Bananenkiste, auf der Marlene stand. Der alte Matrose bückte sich nach der Bananenkiste und verstaute sie säuberlich zwischen zwei Büschen. Dann blickte er einen Moment lang um sich, als wollte er sich vergewissern, dass keine Gefahr für sein Boot drohte, sodass er auch morgen wieder auf den Wellen reiten, vom Sturm verschlungen werde konnte. Als er sich also umschaute, trafen sich unsere Blicke. Er nickte mir zu, wie es Matrosen eben so tun. Da bemerkte ich, dass er immer noch seinen Matrosenhut trug.

Dann kehrte mir der alte Matrose den Rücken zu und schritt mit leicht schlurfendem Schritt davon. Er bog links in eine kleine Gasse ein und verschwand in den frühmorgendlichen Schatten. Und ich wusste, er würde am nächsten Morgen wieder sein Boot aus den Büschen holen, um ein paar Minuten lang die raue See zu spüren.