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Das Rote Ampel Syndrom

Verkehrschaos in Wien fordert 3 Tote: Der größte Stau in der Geschichte Mitteleuropas legte gestern Abend einen großen Teil Wiens lahm. Drei Menschen kamen aufgrund der verstopften Straßen in der Hauptstadt Österreichs zu Tode. Ein Verdächtiger festgenommen. Die Ursache des Staus: ein Fehler in der Ampelschaltung an der Kreuzung Margareten- Sechshauser- Gaudenzdorfer Gürtel.

Es war Donnerstag, der 19. September, 16:50. Der Berufsverkehr sorgte bereits für einen konstanten Lärmpegel auf den größeren Verkehrsachsen Wiens. Der Gürtel, eine Ringstraße, die das größere Zentrum Wiens umrundet wie es eben ein Gürtel tut, ist eine solcher Achsen, auf welcher der Kautschuk der Reifen den Asphalt intensiver malträtiert als anderswo. Da es auch noch Verkehrsteilnehmerinnen gibt, die gezwungenermaßen oder auch freiwillig nicht in Blechkisten durch die Stadt düsen, sondern ihre außerberufliche Existenz auf Fahrrädern, zu Fuß oder in Bus-Bahn-Tram verbringen, gibt es auch am Gürtel einige Ampeln. Diese erlauben den Übergang dieser letzteren Menschen ganz zum Leidwesen der Autolenker. So auch an der Kreuzung Margareten- Sechshauser- Gaudenzdorfer Gürtel. Hier treffen Autos aus dem Norden auf Radfahrer aus dem Süden, die Tram 6 auf Autos aus dem Nord-Osten, Fußgänger aus Mariahilf auf die Tram 18, Fußgänger und Radfahrer aus Fünfhaus auf den ganzen Rest. So einen Treffpunkt kann man nur mit Ampeln lösen, sagten sich die Stadtplaner damals 1960. Also hängte man Ampeln in alle Richtungen auf, malte Zebrastreifen, Radübergänge, Sperrlinien und hängte dann auch noch ein gelb blinkendes Licht, das einen lustigen “Ding-Ding” Ton von sich gibt, für die Straßenbahn auf.

Es war also Donnerstag, der 19. September, 16:50. Manfred war heute eine halbe Stunde früher aus dem Büro gegangen. Er hatte sich nicht mehr konzentrieren können und Hunger hatte er auch schon gehabt. Also setzte er sich in seinen grauen Mazda und machte sich auf den Heimweg. Andreas tat es ihm gleich, wenn auch auf der anderen Seite Wiens und in einen grauen Mazda hätte er sich wohl nie gesetzt. Sein Auto musste schon ein BMW sein. Und so bevölkerten sie die Straßen, genauso wie auch Gerti, Christoph, Bilal, Sabine, Claudia, Bernd und Birgit. Gerti hatte Bauchschmerzen. Christoph hatte heute seinen Jahrestag und wollte seinen lieben Stefan mit Blumen überraschen. Bilal war sau müde von der Arbeit und freute sich auf seine Couch. Sabine musste noch die Bügelwäsche abholen fahren, ihr Mann würde es eh wieder nur vergessen. Claudia hatte einen langen Dienst hinter sich und sehnte sich nach einer Dusche. Bernd war heute gut drauf, drehte das Autoradio lauter als sonst und tappte mit den Fingern im Takt aufs Lenkrad. Und Birgit, die fuhr heute zum ersten Mal in ihrem neuen VW. Das war ein geiles Gefühl. So rollten sie alle den Gürtel in verschiedenen Richtungen entlang, bis ein rotes Ampellicht sie dazu zwang, das Bremspedal zu betätigen.

Am Rand der Straße standen eine Handvoll Menschen ohne Blechkiste, welche den Gürtel überqueren wollten. Da standen Arta und Sophie, die drüben an der Gumpendorfer Station die U6 nehmen wollten um in der Stadthalle schwimmen zu gehen. Außerdem Jakob auf seinem Fahrrad, der, bevor er heimfahren würde, noch schnell zum Mediamarkt auf der Mariahilferstraße musste. Er brauchte Noise Cancelling Headphones. Im Büro war es einfach zu laut, das war kaum mehr auszuhalten. David wollte seine Freundin am Meidlinger Markt treffen und dann würden sie wahrscheinlich ein Kebap essen gehen. Tobias war ungefähr so fertig von der Arbeit wie Bilal, außerdem musste er wirklich dringend aufs Klo und genau so ging es seinem kleinen Noah hinten im Kindersitz. Barbara machte einen Spaziergang, weil es heute so schön sonnig war, und Katharina wollte am Heimweg von der Arbeit noch schnell bei ihrer Schwester vorbeischauen. Auch sie mussten alle stehenbleiben. Es war rot.

Und dann waren da noch Elif, Sarah, Tanner, Mahmud, Jacqueline, Alex, Laura, Julian, Sebastian und Karin, alle in Monikas Händen. Denn sie standen alle dicht gedrängt in der 6er Tram, die von Monika gelenkt wurde. Und auch die 6er Tram hatte rot, also nicht wirklich rot, denn die Straßenbahnen haben ja ausgeklügeltere Lichtsignale als der ungeschulte Rest der Verkehrsteilnehmer. Da gibt es vier Punkte, die gelb werden können oder grau bleiben. Jetzt waren gerade die oberen drei Punkte gelb, also musste Monika warten. Die Übergangsampel neben den Tramgleisen leuchtete trotzdem gelb und gab ihren regelmäßigen “Ding-Ding” Klang von sich.

Und so standen sie alle an der Kreuzung und schauten ins rote Licht der Ampel. Monika schaute ins gelbe Licht. Tobias drehte sich zum kleinen Noah um und sah seinem unschuldigen Gesichtsausdruck direkt an, dass seine Windel gerade definitiv ordentlich gefüllt worden war. Jetzt musste er sich beeilen. Auch weil er selbst wirklich pinkeln musste. Jakob schaute auf die Uhr. Arta schaute nach links und rechts und wollte ihre Freundin dazu anregen, trotz roter Ampel die Straße zu überqueren. Es kam ja kein Auto. Doch Barbaras strenger Blick ließ sie zurücktreten. “Rot ist rot”, murmelte Barbare. In den Autos breitete sich langsam Unruhe aus. Warum gingen die Leute nicht endlich über die Straße?, fragte sich Birgit. Sie wollte nochmal ein bisschen angasen im neuen Auto. Gerti drückte sich mit der rechten Hand auf den Magen, dieses Thailändische Zeug in der Kantine heute Mittag war ihr nicht gut bekommen. Katharina schaute ins Ampellicht, es war beinahe hypnotisierend. Genauso ging es auch Christoph. Monika war die Pause ganz recht, jetzt konnte sie endlich den Status ihrer Bekanntschaften auf WhatsApp anschauen. Ihre Arbeitskollegin Renate war gerade auf Urlaub und stellte so schöne Sonnenuntergänge rein. Manfred reckte sich ein bisschen im Sitz, um zu sehen, was denn da vorne passierte, dass es so lange dauerte. Sarah blickte von ihrem Handy auf und schaute nach draußen. Die Scheiben der Tram waren etwas angelaufen, aber dahinter konnte sie eine Autoschlange und eine anwachsende Menschenmenge am Rand der Straße erkennen. Vielleicht war das eine Art Demo? Sie googelte “Demonstration Wien Gürtel heute”, fand aber nichts. Dann rutschte ihr Finger am Bildschirm ab und ein Video von tanzenden Mädchen in Leggings beanspruchte wieder all ihre Aufmerksamkeit.

Draußen war es gespenstisch still geworden an der Kreuzung. Autolärm war mittlerweile bereits weit entfernt. Niemand sagte ein Wort. Alle schauten auf die andere Seite, schauten sich gegenseitig an, schauten ins rote Licht. Dann ließ Bernd das Fenster runter, damit auch seine Umgebung in den Genuss seiner sängerischen Fähigkeiten kommen würde. Jetzt war es gespenstisch still mit dem Krächzen eines 60-jährigen Mannes als Soundtrack. Die Traube an Menschen am Fußgänger- und Radübergang wurde von Minute zu Minute größer. Auch die Autos reihten sich immer länger entlang des Gürtels. Die Neuankömmlinge hatten natürlich keine Ahnung warum der Verkehr zum Stehen gekommen war. Sie akzeptierten ihr Schicksal. Es war eben rot. Zwei 18er Trams standen mittlerweile hinter der 6er Tram. In den Wägen wurde es langsam sehr stickig. Tanner fragte Monika ob er nicht bitte hier aussteigen könne, er wollte eh nur bis zum Margaretengürtel. Monika verneinte. Aussteigen nur in Stationen.

Und so reihten sich die Autos hinter Autos, die Busse hinter Busse, die Trams hinter Trams, Fahrräder hinter Fährräder und eigentlich einfach Menschen hinter Menschen. Und alle warteten. Denn es war rot. Und wenn es rot ist, dann ist es rot in Wien. Das wird so respektiert. Da kann man nichts machen.

Es war am Donnerstag, dem 19. September, 17:30 als die Einsatzkräfte alarmiert wurden. Ein Verkehrschaos rund um den Gürtel. Alles steht still. Der Grund ist unbekannt. Drei Personen seien in der 18er Tram nahe Gumpendorfer Straße kollabiert. Ein Mann und eine Frau am Gaudenzdorfer Gürtel hätten eine Art psychotischen Anfall. Ein anderer hätte öffentlich uriniert, angeblich mitten auf den Zebrastreifen. Die Tür eines 6er Tram Wagons wäre aufgebrochen worden.

Die Einsatzkräfte versuchten also, sich einen Weg zum Gürtel zu bahnen, doch es war unmöglich. Alle Straßen waren verstopft. Da half kein Blaulicht und kein “Rettungsgasse bilden” durchs Mikrofon. Die Einsatzkräfte waren dazu gezwungen, sich zu Fuß Richtung Gürtel aufzumachen, was natürlich seine Zeit braucht. Mittlerweile standen die Autos schon bis nach Brigittenau. Halb Wien war verstopft. Es gab kein Weiterkommen. Während die Einsatzkräfte also zum Gürtel spazierten, verstopften sich Johanns Herzkranzarterien im Gaudenzdorfer Lidl vorm Kühlregal wo die Wurst zu finden ist. Er hatte gerade herausgefunden, dass der Leberkäse für heute bereits aus war, da breitete sich ein Schmerz in seiner Brust aus. Elisabeth rief sogleich die Rettung an, doch die brauchte so lange um sich einen Weg zu Johann zu bahnen, dass dieser vor dem Wurstregal seine letzten Atemzüge tat. Ein ähnliches Schicksal fanden zwei weitere Menschen während die Autoschlangen länger und Menschenansammlungen größer wurden.

Als die Einsatzkräfte gegen 18:00, am Höhepunkt der Rush Hour, an der Kreuzung Margareten- Sechshauser- Gaudenzdorfer Gürtel eintrafen, fanden sie erst viele aufgekratzte und verärgerte Menschen vor, doch je näher sie der Kreuzung selbst kamen, desto ruhiger wurden die Menschen. Sie starrten alle reglos nach vorne, ins rote Licht der Ampel. Neben der 6er Tram, deren Türen offen standen, fanden die Einsatzkräfte eine Menge an Menschen vor, die ebenfalls ins rote Licht der Fußgängerampel starrte. Die Einsatzkräfte versammelten sich in der Mitte der Kreuzung um die Situation zu beurteilen. Es war rot in alle Richtungen und sie waren umzingelt von Menschen, welche die rot leuchtenden Ampeln fixierten. Die Sonne stand mittlerweile schon tief und das Rot reflektierte auf den Gesichtern der Menschen. Die Einsatzkräfte gruselte es. Sie wussten nicht was zu tun war. Eine der Polizistinnen, die da jetzt so in der Mitte der Kreuzung standen hatte eine Schwester, die Isabella, die hatte Psychologie studiert, und die rief sie jetzt an. Sie schilderte ihr die Situation und Isabella machte sich daran, zu recherchieren. Die übrigen Einsatzkräfte warteten. Ratlos wie sie waren, wurde beschlossen, auf Isabellas Urteil zu warten. Ein paar Minuten später klingelte das Handy der Polizistin. Isabella hatte eine mögliche Ursache gefunden: das Rote Ampel Syndrom.

Das Rote Ampel Syndrom tritt ein in Gesellschaften, die generell sehr strukturiert und regeltreu aufgebaut sind. Meist ist das Vertrauen in den Staat und die staatlichen Institutionen sehr hoch in solchen Gesellschaften. Regeln werden respektiert und kaum hinterfragt. So auch rote Ampeln. Eine rote Ampel wird als Grund gesehen, eine Straße nicht zu überqueren. Dieser Grund wird über jegliche andere Gründe erhoben. Menschen, die über längere Zeit konstant einer roten Ampel ausgesetzt werden, verfallen in einen Zustand, der dem einer hypnotisierten Person gleichkommt. So erklärte Isabella die Situation der Polizistin. “Und was können wir jetzt tun?”, fragte die Polizistin. “Die Ampeln ausschalten”, meinte Isabella.

“Die Ampeln ausschalten? Unmöglich!”, sagte der Einsatzleiter. “Da müssten wir uns das OK von ganz oben holen.” Aus Mangel an Alternativen nahm der Einsatzleiter sein Telefon aus der Tasche und rief seinen Chef in der Zentrale an. Dann rief der Bezirksinspektor den Abteilungsinspektor und der Abteilungsinspektor den Kontrollinspektor und der Kontrollinspektor den Chefinspektor an und so ging es weiter bis ins Innenministerium. Diese Anrufe brauchten natürlich auch seine Zeit, denn man stand dem Konzept des Ampelabdrehens natürlich sehr skeptisch gegenüber. Ampeln waren bisher immer als Lösung gesehen worden, nie als Problem.

Jetzt klingelte also das Telefon des Innenministers während jede große Verkehrsachse Wiens mittlerweile lahm stand. Herbert hörte sich an was der General ihm da schilderte und er war einverstanden damit, die Ampeln an der Kreuzung Margareten- Sechshauser- Gaudenzdorfer Gürtel vorübergehend auszuschalten. Eine Bedingung hatte er aber: “Wir müssen das aber schon irgendwie auf die Ausländer schieben, gö. Das schaut sonst gar nicht gut aus. Schau, dass die Kollegen irgendwen festnehmen an der Kreuzung. Das macht dann a gute Story.” Der General gab die Anweisungen des Innenministers dem Generalmajor weiter, dieser dann dem Brigadier und so weiter. Wieder einige Zeit später klingelte dann endlich das Telefon des Einsatzleiters am Gürtel. Er gab sofort die Anweisung “suspekte Individuen auszumachen, und zumindest eines festzunehmen” an seine Truppe weiter, die sogleich die umstehenden Autos auf nicht-österreichische Insassen prüften. Jetzt waren sie ja noch hypnotisiert, da war das einfach. Sie fanden auch sehr bald Bilal, der ja sowieso schon sau müde von der Arbeit gewesen war und wie ein leichtes Opfer aussah. Zwei der Polizisten machten sich also daran, Bilal zu verhaften wegen Verdachts auf Sabotage öffentlicher Infrastruktur oder so ähnlich. Den genauen Wortlaut würde man sich später noch überlegen müssen. Der Rest der Truppe nahm Position ein, um den Verkehr zu leiten, sobald die Ampeln ausgeschaltet wären. Als alle bereit waren, gab der Einsatzleiter das Zeichen und die roten Lichter erloschen. Die Menschen an der Kreuzung blinzelten desorientiert, schauten um sich, schienen nicht zu wissen wo sie waren. Mittlerweile war es dunkel. Die positionierten Polizisten riefen Anweisungen in ihre Megafone und machten ausholende Bewegungen mit ihren Armen. Die Menschen setzten sich langsam in Gang, legten einen Gang ein, und alles bewegte sich langsam wieder. Die Einsatzkräfte waren bis in die frühen Morgenstunden beschäftigt.

Am nächsten Morgen dann die Schlagzeile: Verkehrschaos in Wien fordert 3 Tote: Der größte Stau in der Geschichte Mitteleuropas legte gestern Abend einen großen Teil Wiens lahm. Drei Menschen kamen aufgrund der verstopften Straßen in der Hauptstadt Österreichs zu Tode. Ein Verdächtiger festgenommen. Die Ursache des Staus: ein Fehler in der Ampelschaltung an der Kreuzung Margareten- Sechshauser- Gaudenzdorfer Gürtel.

Herbert war nicht glücklich. Irgendwie hatten diese Scheiß Journalisten schon wieder den wahren Grund herausgefunden. Wenigstens hatte die Polizei an der Kreuzung einen Ausländer festgenommen. Auf X konnte man das sicher noch irgendwie so drehen, dass der die Ampeln lahm gelegt haben könnte. Rotes Ampel Syndrom, so ein Blödsinn.