Ich stehe im Blau des Morgens. Die Farben werden kommen, doch jetzt ist alles blau. Ein Schleier über der Welt. Und ich atme. Es liegt ein Hauch von Rauch in der kalten Luft. Ich schaue über die Dächer meiner Stadt. Ist es meine Stadt? Das habe ich noch nicht entschieden. Die Uhr des Kirchturms der großen Kirche einige Blöcke weiter ist noch beleuchtet. Groß und weiß und rund. Wie der Mond. In den spiegelnden Glasfassaden der modernen Gebäude spiegelt sich schon ein Hauch Licht der Sonne, die sich zum Aufgehen bereitmacht.
Von Minute zu Minute wird das Blau um mich heller, verliert an Intensität. Eine Amsel fliegt auf mich zu und lässt sich für einige Zeit am Hausdach über mir nieder. Sich für einige Zeit niederlassen. Das wollte ich auch. Sie zwitschert leise ihre Melodie. Ich stehe da und höre ihr zu. Mich fröstelt es. Am Morgen ist die Luft rein. Ich wasche meine Lungen mit dem kalten Blau. Der Himmel färbt sich langsam in diesem eigenartigen Hellblau. Ich weiß, hinter mir muss er in Flammen stehen, der Himmel. Doch ich drehe mich nicht um. In den Fenstern gegenüber spiegelt es Orange.
Das satte Blau ist vergangen. Ich sehe die Dächer jetzt schon ganz genau. Die Vögel der Stadt erwachen. Eine Taube gleitet vom Turm der alten Seifenfabrik gegenüber herab in den Hof. Rosarote Wolkenschwaden durchziehen den Himmel. Sie dehnen sich aus, über mein gesamtes Sichtfeld. Das Blau ist nicht mehr alleine. Aus den Schornsteinen der umliegenden Häuser beginnt es zu Rauchen. Weiße dicke Bänder vermischen sich mit den zarten rosaroten Streifen. Das Rosa verblasst, es legt sich auf den Horizont und mischt sich mit dem Orange.
Wie vom Farbenspiel aufgeweckt, werden die Geräusche der Stadt intensiver. Dort holpert ein Lastwagen vorbei. Da startet eine kleine Autokolonne von der nun endlich grünen Ampel weg. Alles muss schnell gehen da unten. Doch nicht für mich. Nicht für die Amsel. Ich stehe da und schaue. Die Amsel singt. Mein Atem gibt dem Tag Rhythmus. Ich atme das Blau ein und Licht aus. Ich atme orangegefärbte Wolkenschwaden ein und ein helles klares Blau aus.
Die roten Ziegeldächer leuchten jetzt orange. Die Sonne muss den Horizont überschritten haben. Wir haben uns ihr wohl genügend zugewendet, um unsere Welt in Licht getaucht zu sehen. Ich atme den letzten Hauch Blau ein, der noch bleibt und halte die Luft an, möchte es nicht gehen lassen. Die Amsel bereitet sich auf ihren nächsten Flug vor. Sie breitet die Flügel aus und gleitet hinüber aufs Nachbardach. Meine Kehle beginnt zu brennen. Ich gebe nach und atme die ersten Sonnenstrahlen aus. Sie fallen auf die Gebäude um mich, sie tauchen den geziegelten Seifenfabriksturm in ein intensives Orange. Die Fenster eines der modernen Gebäude reflektieren die Sonne. Es blendet beinahe.
Wir drehen uns weiter der Sonne zu. Der Himmel leuchtet in einem hellen Blau. Ich stehe darunter. Hinter mir, um mich, wird es heller und heller. Drei Tauben fliegen vorbei. Ich höre, wie sich das Tor im Hof öffnet. Die Geräuschkulisse der Stadt wird breiter. Die Farben sind zurück. Der Tag hat begonnen.
Morgenblau
Dieser Text wurde vom Zauberberg Sommer Semmering 2025 mit dem Tagespreis ausgezeichnet.